Zur Beisetzung meiner Mutter am 25.11.2022 hatte ich diesen Text, 4-seitig, gefaltet A4 einstecken:
Die Umstände des Todes unserer Mutter angemessen zu beschreiben ist schwierig und es ist absehbar, dass uns das am Tag ihrer Bestattung aus verschiedenen Gründen nicht gelingen wird.
Deshalb hat Jürgen das aufgeschrieben.
Wir danken Dir für Deine Anteilnahme und sind getröstet von der Vorstellung, dass die wunderbare Seele unsere Mutter in Deinen Erinnerungen weiter schwingen wird.
Jürgen und Carsten Plehn, die Söhne der Ingeborg Mayer.
Post Mortem Joker
„Ihre Mutter war sehr selbstbestimmt. Alle haben das bewundert!“, sagte der Heimleiter Gross, dessen Gesicht die Brüder nicht gesehen hatten. Es war von einer FFP-2 Maske bedeckt.
Jürgen und Carsten hatten sich die Freiheit genommen, die Masken abzunehmen, nachdem sie das Polizeisiegel an der Tür gebrochen und die Wohnung betreten hatten. Auch ohne Maske fiel das Atmen dort nicht leicht.
Dass Herr Gross sich unwohl fühlte, konnte seine Maske nicht verbergen. Über den kurzen Satz hatte er wahrscheinlich eine Weile nachgedacht.
Die Kundin post mortem hochleben zu lassen, war in der teuren Seniorenresidenz vermutlich Standard. Dazu der unterschwellige Verweis auf selbstgemachte Eigenverantwortung, klang für die Brüder wie eine Bitte.
Es war Montag, acht Tage nach der Todesnachricht. Die kam 20 Minuten nachdem Jürgen am vorherigen Sonntag verlangt hatte, jetzt wirklich nach seiner Mutter zu schauen. Seit Mutter, fünf Autostunden entfernt, am Chiemsee wohnte, hatten beide das sonntägliche Telefonat gefeiert und niemals ausfallen lassen.
Dass die Mama, die Oma, die Inge schon in der Woche vor diesem Sonntag nicht erreichbar war, hatte man ihm bereits sorgenvoll berichtet. Sie wäre vermutlich in einer Behandlung oder Einkaufen, waren die Anfragen abgewiegelt worden.
Dass jetzt gleich der Arzt kommt, hatte man ihm mit der Todesnachricht in Aussicht gestellt. Jürgen stellte sich dessen Routine im Pflegeheim vor und bat umgehend die Rosenheimer Polizei, Zeitpunkt und Ursache des Todes besonders sorgfältig festzustellen. Die machten das. Man fand Inge kniend vor ihrem Bett, seit drei oder vier Tagen tot. Die Leiche wurde beschlagnahmt, das Zimmer versiegelt.
Drei oder vier Tage!
Zuhause, in Käfertal, war sie einst zwei Tage hilflos auf dem Küchenboden gelegen und nur Dank der achtsamen Nachbarin gerettet worden. Die Vorstellung, sie wäre in dieser Lage elendig verreckt, in einem Pflegeheim, war blanker Horror.
Carsten war unterwegs, mit seinem Airbus in Bogota. Der „Iceman“, wie ihn Jürgen gelegentlich nannte, weil er wirklich niemals die Kontrolle verlor. Solange er Kapitän war, behandelte er den Tod seiner Mutter ungefähr wie einen Motorbrand über dem Atlantik.
„Die mach´ ich platt!“ war Jürgens erste Reaktion. Der „Wildman“, nach Footballcoach Cox, war in einem Modus, der ihn vor der schlimmsten Trauer bewahrte. Ob sie das wohl auch kalkuliert hatte?
Schon seit Jahren hatte sich Inge kaum eine Folge der Rosenheim Cops im Fernsehen entgehen lassen. Jetzt war sie ein Fall der echten Rosenheim Cops. Mit dem Kriminal Dauerdienst, KDD Rosenheim, telefonierte Jürgen in den folgenden Tagen ausführlich, machte seiner Entrüstung Luft, beschrieb seine Horrorvision, beantwortete Fragen und gab schließlich, am Mittwoch, Mamas Leiche zur Obduktion frei.
Das war eine schwierige Entscheidung, nur möglich als Tribut an die unbedingte Wahrheitsliebe seiner Mutter. Die Stunden bis zum Obduktionsbericht vergingen zäh, in Wellenbewegungen zwischen der Bereitschaft, die Priener Seniorenresidenz komplett zu ruinieren und der Hoffnung, es möge nicht nötig sein.
Die Erlösung kam um 18 Uhr. Die Ärztin, die schon am Sonntag im Auftrag des KDD vor Ort gewesen war, rief an um zu berichten. Außer der monströsen Milz, aber das war ja schon bekannt, hatte man nichts auffälliges gefunden. Die Todesursache war ein spontanes Totalversagen des völlig entkräfteten Körpers. Entschlafen innerhalb recht kurzer Zeit! Danach blieb sie drei oder vier Tage lang unentdeckt.
Jürgens Wut verwandelte sich in Hochachtung.
Sie hatte das geplant und sogar darüber geredet; Alle Kontakte im Heim abgebrochen, sich mal wieder vom Essen abgemeldet und ihren beiden Freundinnen in aller Form Besuchsverbot erteilt. Gewundert hatte das Niemanden. Sie war schon immer so - in Prien, wohin sie 2020 in ihre Einsiedelei gezogen war. Niemandem zur Last und mit der Freiheit sich endlich nicht mehr um andere zu kümmern.
Die Trauer hatte über die Tage ihren lähmenden Verzweiflungscharakter verloren und man konnte sie endlich annehmen. Carsten war zurück aus Bogota. Die Brüder saßen zusammen, trauerten und waren stolz auf ihre Mama.
Mit Ansage! Man hätte es wissen können. Nein, sie hatten es gewusst, wollten aber nicht.
Die wenigen Lügen, die Mama in den letzten Wochen am Telefon formuliert hatte, waren als solche erkennbar. Sie selbst und jeder, der ihr nahe stand, wusste das.
„Nein, sie hat nicht vor zu sterben.“ „Prima Idee, sie macht sich gleich Haferflocken.“ Dabei war ihre Stimme bei jedem Telefonat schwächer und sie bekannte sogar, dass sie faktisch aufgehört hatte zu essen.
Sie war wie die alte Indianern, die unter einem schneebedeckten Felsen einfach sitzenbleibt und den wandernden Stamm energisch weiter winkt. In der Spur vor diesem Felsen ist jeder geäußerte Zweifel, jedes Klammern und Jammern respektlos.
Ingeborg Mayer hatte das Ende ihres Lebens, wie so ziemlich alles Vorherige, sorgfältig geplant, organisiert und durchgezogen. Im Sinne ihrer Kinder, wie immer. Die Brüder hätten allerdings niemals in Erwägung gezogen die Mama ins Heim zu bringen, schon gar nicht in fünf Autostunden Entfernung.
„Im Sinne der Kinder“ waren langfristige Strategien. Dass die anfangs gelegentlich als Zumutung oder Anmaßung aufgenommen wurden, war für Inge akzeptabel.
Es war Alles geregelt. Das Haus war schon längst den Kindern überschrieben, alle weiteren Vollmachten notariell erteilt. Die Bestattung war, bis hin zur Wäsche, geplant und im Voraus bezahlt. Der Leiter der Mannheimer Friedhöfe bewahrte schon seit vielen Jahren die leere Urne seiner ehemaligen Kollegin in seinem Büro auf und empfing die Brüder als Freund der Familie.
Jetzt war Montag. Mit Jürgens Auto waren sie sehr früh aufgebrochen, hatten den Zimmerschlüssel bei der Kripo Rosenheim und einen Einwegtransporter bei Sixt abgeholt.
Vierhundert Meter zum Chiemsee mit Blick auf die Kampenwand. Mutter hatte Jahre gebraucht, um genau diesen Platz zu finden. Bayern war schon immer ihr Sehnsuchtsort und die Kampenwand ihr Altar. Sie hatte es gefeiert, als sie amtlich Bayerin war.
Die Brüder waren angekommen, wo Mutter noch vor 3 Monaten, im Juni, vier Tage mit ihren Kindern verbracht hatte. Jetzt war klar, dass das ihr Abschied gewesen war. Der Gang zur versiegelten Wohnung fiel schwer.
In der servilen Behandlung durch die Angestellten war unterschwellige Angst zu spüren, vielleicht Schuldbewusstsein? Fraglos hatte Herr Gross angeordnet, dass jeder Wunsch zu erfüllen sei. Er hatte sich schon vor Tagen, am Telefon äußert großzügig gegeben. Jetzt wartete er irgendwo im Haus, bis man ihn sehen wollte.
Es roch nach Mama, besonders im Kleiderschrank. Der Geist der Mutter manifestierte sich nicht in dem Raum, in dem schon so viele gestorben waren. Er war in den ausgesuchten Dingen, die sie hierher mitgebracht hatte und die den Brüdern schon immer vertraut waren. Sie brauchten drei Stunden um diese Dinge zu finden und in die Autos zu packen. Inzwischen war es tröstlich, etwas zu tun zu haben und manche Stücke in der Hand waren wie ein sanftes Lebewohl… so wie: „weißt Du noch?“
Sie wussten noch…
Es war ja gerade erst ein paar Wochen her, da hatte Inge Alle mit Kaffee, Kuchen, Dessert, Prosecco und Bier bewirtet und dabei Liebe und Freude ausgestrahlt. Ein bisschen wie Weihnachten, sie konnte das ganzjährig.
Dieses Mal stand im fast leeren Kühlschrank ein einsames Piccolo Prosecco Rose. War das auch Absicht? Es gab sonst keinen Alkohol in der Wohnung.
Mutter hatte die Lieder von Reinhard Mey geliebt, besonders, wenn Jürgen sie als Teenager mit Gitarre vorgetragen hatte. „Gute Nacht Freunde …“ fiel ihm ein. Eingebung? Einladung? Er fühlte sich eingeladen und die Brüder verabschiedeten sich auf dem geräumigen Balkon in Prien mit einer Zigarette und einem letzten Glas im Stehen, von ihrer Mutter.
Danach war Einvernehmen, als wäre sie da … und doch nicht. Was folgte, lief genau so ab, wie sie es „im Sinne der Kinder“ arrangiert hätte - oder hatte sie das?
Es fiel den Brüdern leicht, auf fast Alles zu verzichten und Heimleiter Gross vermittelte, begleitet vom Hausmeister, den Eindruck, es wäre es ein besonderes Vergnügen, die Entrümpelung und Renovierung kostenlos zu übernehmen. Eine Rechnung wäre ohnehin, für egal was, nicht mehr zu erwarten, für so eine tolle Frau. … so selbstbestimmt!
Vor dem abgefranzten Polizeisiegel übergaben sie ihm den Schlüssel. „Das ist jetzt erledigt. Alles ihres?“ Das war eine rhetorische Frage. Über der Maske, in den Augen des Herrn Gross, stand Dankbarkeit.
338 Leute habe das gelesen